Die Initiation des Spielers

Was uns Spiele bieten / Was wir in ihnen finden

Wenn heutzutage über Videospiele und deren scheinbar starke Anziehungskraft auf (männliche) Teenager und junge Erwachsene gesprochen und debattiert wird, wird schnell einer von zwei Argumentationswegen eingeschlagen. Zwei Sichtweisen, die sich meistens klar in Anklage und Verteidigung gliedern lassen. Die Anklage betont immer wieder die angeblich schädlichen Auswirkungen des Spielens. Phänomene, wie die Vernachlässigung der schulischen Pflichten, soziale Verkümmerung und sogar die Schädigung des Nervensystem, wollen Kritiker anhand von Studien und Tests nachweisen können. Auf der anderen Seite verteidigt sich die Videospielgemeinde immer wieder damit, dass in Videospielen taktisches Vorgehen erlernt und erprobt werden könne, dass die virtuelle Realität neue soziale Räume schaffe und dass regelmäßiges Spielen sogar zu einem besseren Umgang mit Stress führe.

Eigentlich sollte jedem aufgefallen sein, dass wir bis jetzt nicht mal annähernd um die oben genannte Fragestellung kreisen. Wir sprechen von (umstrittenen) Wirkungen, aber nicht vom eigentlichen Affekt. Außerdem setzten die Diskussionen oft immer nur (gewollt oder ungewollt) ihren Schwerpunkt auf „Online-Shooter“ und „MMORPGs“, dass heißt Spiele bei denen Menschen virtuell über Netzwerke miteinander agieren und kommunizieren. Dieses sind ohne Frage ein wichtiger Teilmarkt der Videospiel-Industrie, aber scheint hierbei oft vergessen zu werden, dass bei einem Großteil aller Spiele immer noch das „Offline-Erlebnis“ im Vordergrund steht. (auch wenn selbst ernannte Industrie-Gurus seit Jahren schon das Aussterben klassischer Offline-Spielkonzepte voraussagen.)

Vielen scheint nicht klar zu sein (oder sie haben sich einfach noch nicht damit auseinandergesetzt), dass gerade diese „Offline-Spiele“, in denen der Spieler in eine komplett „künstliche Welt“ eintritt und nur mit „künstlichen Intelligenzen“ interagiert, eine ganz eigene Faszination ausüben. Der Spieler durchlebt das Schicksal einer Hauptfigur, die ihn in der Spielwelt verkörpert. Es müssen Entscheidungen getroffen, Rätsel gelöst und Hindernisse überwunden werden. Es gibt Wendungen in der Erzählung, sich verändernde Beziehungen zu anderen Figuren und aussichtslose Situationen, aus denen es zu entkommen gilt. Kurzum: Videospiele erzählen Geschichten. Wie Filme und Bücher handeln sie von außergewöhnlichen Individuen, ihren Taten und den Abgründen, die diese überwinden müssen. Zu lange wurden Videospiele nur als Reaktionstests und Zeitvertreib für Zwischendurch gesehen. Sie sind der nächste Schritt in der Evolution erzählender Medien. Und sie bieten dem Rezipienten zum ersten Mal die Möglichkeit selbst in das Geschehen einzugreifen. Wir sind nicht mehr länger passiver Zuhörer/Beobachter, wir sind aktiver Mitgestalter.

Geschichten fesseln und begeistern uns. Sie lassen uns die Lust am großen Abenteuer erleben, bieten eine Flucht aus den alltäglichen Routinen. Wir begleiten die Hauptfigur auf dem mythischen Pfad zur Erkenntnis, an dessen Ende uns die Wahrheit, das allheilende Elixier oder die Schlüsselfigur in Form des Vaters oder der/dem Geliebten erwartet. Bei Videospielen verschmelzen wir mit der Heldenfigur (wie stark, ist vom jeweiligen Spiel und subjektivem Empfinden abhängig). Sind es vielleicht gerade diese „mythischen Grundmuster", die sich seit Jahrtausenden in unserem kollektiven Gedächtnis verankert haben, die junge Menschen faszinieren und vor den Bildschirm bannen? Ersetzen sie nicht teilweise (wenn auch nur unbewusst) die Initiationsrituale älterer Kulturen? Jene Reisen von denen die Kinder als Erwachsene zurückkehrten, auf denen sie Wahrheit und den Wert des Lebens kennen lernten? Gerade in unserer rationalisierten und durchorganisierten Gesellschaft verschwimmen die Grenzen zwischen Kindheit und Erwachsensein doch immer mehr. Gleichzeitig wie der Druck auf den jungen Schultern immer schwerer, die Leistungserwartungen immer höher. Meiner Meinung verstärken gerade diese Entwicklungen bei vielen jungen Menschen den Drang zur Freiheit und zum Abenteuer, den essentiellen Wunsch der Selbstfindung, und Videospiele sind ein unkompliziertes Mittel dieses Verlangen zu befriedigen und gleichzeitig zu stimulieren. Sie bieten schnell und unkompliziert den Zugang zu einer anderen Welt, in der vieles klarer und einfacher ist, in der wir einem (vorbestimmten) Weg folgen. Sie bieten eine Welt in den wir an unseren Aufgaben wachsen und Grenzen überschreiten.

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Der Held folgt dem Ruf zum Abenteuer: Hier in Form des Schwertes, das aus dem Stein gezogen werden will.


Welcher Spieler kennt sie nicht: Momente innerhalb von Spielen, die sich fest in unseren Erinnerungen verankert haben? Wie könnten wir je vergessen, wie wir in Secret of Mana in der Rolle des Jüngling das Mana-Schwert aus dem Stein zogen, Unglück über unser Heimatdorf brachten, aus eben jenem Grund verband wurden und uns schließlich den Gefahren einer fremden Welt stellen mussten? Welcher Spieler von Final Fantasy VII erinnert sich nicht an den Moment, in dem wir als Cloud Strife nach einer halsbrecherischen Verfolgungsjagd zum ersten Mal die Mauern des verdreckten Midgars verließen und sich vor uns endlose grüne Steppen auftaten, die darauf warteten, erkundet zu werden? Wie einprägsam waren die ersten Schritte aus der Sicht Gordon Freemanns durch die markanten Straßenzüge von City 17 in Half-Life², das wir kurz zuvor in einem virtuellen Zug erreicht hatten? Diese Sequenzen sind Beispiele für einen fundamentalen Bestandteil vieler Spiele und außerdem für einen fundamentalen Bestandteil des Mythos: Die Überschreitung der Schwelle, die das Bekannte vom Unbekannten trennt. „Der erste Schritt in eine größere Welt“ (frei nach Obi-Wan Kenobi zitiert). Es ist das gleiche Gefühl, das uns übermannt, wenn wir zum ersten Mal für längere Zeit das Elternhaus oder unsere Heimatstadt verlassen, um uns zu neuen Ufern aufzumachen. In Videospielen sind es Momente der Erhabenheit. Sie markieren den Aufbruch zur Heldenreise. Und vielleicht sind es Momente wie diese, die die am Anfang dieses Textes beschriebene Anziehungskraft von virtuellen Welten und ihren Geschichten auf junge Menschen ausmachen.

Manchmal hört man ältere Leute mit einem lachenden und einem weinenden Auge sagen: „Damals waren wir jung und wir dachten, wir könnten die Welt verändern“. Als Spieler würde ich darauf antworten: „Nun, wir sind jung, und in Videospielen können wir es immer wieder.“


Erwähnte Spiele:
Secret of Mana
http://de.wikipedia.org/wiki/Seiken_Densetsu#Secret_of_Mana
Final Fantasy VII
http://de.wikipedia.org/wiki/Final_Fantasy_VII
Half-Life²
http://de.wikipedia.org/wiki/Half-Life_2

Anderes:
Initiation
http://de.wikipedia.org/wiki/Initiation
Heldenreise
http://de.wikipedia.org/wiki/Heldenreise
MMORPG
http://de.wikipedia.org/wiki/Massively_Multiplayer_Online_Role-Playing_Game

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Zuletzt aktualisiert: 19. Mai, 02:00

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