Dienstag, 17. März 2015

Geschichte (um)schreiben

Was uns Videospiele wie „Assassin's Creed“ über Geschichte zu sagen haben und welche Potentiale und Gefahren darin liegen.


“I have come to believe that the whole world is an enigma, a harmless enigma that is made terrible by our own mad attempt to interpret it as though it had an underlying truth.”
― Umberto Eco, Foucault's Pendulum


Seit der Veröffentlichung des ursprünglichen „Assassin's Creed“ im Jahr 2008 haben sich die nachfolgenden Spiele-Abenteuer, die sich allesamt um einen weltumspannenden Geheimbund von Meuchelmördern drehen, zu einer jährlichen Konstante auf dem Spiele-Markt entwickelt. Die Fortsetzungen und Ableger von „Assassin's Creed“ funktionieren insgesamt als eine Art Anthologie, die den Spieler in die Haut diverser Protagonisten in unterschiedlichen historischen Epochen schlüpfen lässt.


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The underlying truth: Hauptfigur Altair eignet sich am Ende von "Assassin's Creed" geheimes Wissen mit Hilfe des mysteriösen Edensplitters an.
Bild: Ubisoft



Mit viel Liebe zum Detail erwachen in den Spielen die historischen Abbilder von Metropolen wie Rom, Istanbul, Boston oder Paris virtuell zu neuem Leben und können vom Spieler frei erkundet werden. Bevölkert werden die weitläufigen Spielewelten von bedeutenden Persönlichkeiten wie Leonardo DaVinci, George Washington oder Napoleon Bonaparte. Als narrativer Aufhänger dienen den Spielen dabei meistens geschichtsträchtige Ereignisse und Umwälzungen, in anderen Worten: Kriege, Staatsstreiche und Revolutionen. „Assassin's Creed“ sinnstiftende Spielfläche ist somit die chaotische Geschichte der Menschheit an sich.


“Any fact becomes important when it's connected to another.”
― Umberto Eco, Foucault's Pendulum


Durch den Kanon (sprich: die alles umspannende Hintergrundgeschichte), der die einzelnen Ableger der Reihe miteinander in Verbindung setzt, wird die Komplexität und Verhältnismäßigkeit historischer Ereignisse allerdings in ein allzu einfarbig scheinendes Licht gerückt. Im fiktiven Weltentwurf der „Assassin's Creed“-Spiele wird das globale Geschehen maßgeblich von zwei Geheimbünden gelenkt, den Assassinen und den Templern, die sich um die Deutungshoheit von Begriffen wie „Freiheit“ und „freiem Willen“ einen Jahrtausende anhaltenden Kampf liefern. Durch diese Mythologie werden am Ende selbst die komplexesten historischen Ereignisse wie etwa der amerikanische Unabhängigkeitskrieg oder die Französische Revolution auf simple Schwarz-Weiß-Dichotomien herunter gebrochen. Denn die Assassinen und Templer haben natürlich ihre Finger in jedem Honigtopf der Geschichte, halten sämtliche unsichtbaren Fäden der weltlichen Führer-Marionetten und feilen fleißig an all den Ecken und Kanten der Wahrheit, die ihnen nicht zusagen. „Nichts ist wahr. Alles ist erlaubt“, wie uns schon der alte Weise vom Berg lehrte.


“The lunatic (...) doesn’t concern himself at all with logic; he works by short circuits. For him, everything proves everything else. The lunatic is all idée fixe, and whatever he comes across confirms his lunacy. You can tell him by the liberties he takes with common sense, by his flashes of inspiration, and by the fact that sooner or later he brings up the Templars…There are lunatics who don’t bring up the Templars, but those who do are the most insidious.”
― Umberto Eco, Foucault's Pendulum


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Al Mualim unterrichtet seinen Schüler Altair in der Bergfestung von Masyaf über die geheimen Machenschaften der Tempelritter.
Bild: Ubisoft



Ich möchte hier nicht die Autoren und Spiel-Designer von „Assassin's Creed“ dafür kritisieren, dass sie Historisches mit Fiktionalem mischen, um eine möglichst interessante Geschichte zu erzählen – Schließlich ist das als kreative Unterhalter genau ihre Aufgabe und wird von populären Buchautoren wie etwa Dan Brown nicht anders gemacht. Wenn auch nicht unbedingt bedenklich, so finde ich es aber zumindest beachtlich, wie stark sich die Narrative eines „Assassin's Creed“ inzwischen den Welterklärungsversuchen von Hobby-Historikenr und Blechhut-Trägern ähneln, die ihre täglichen Verschwörungs-Eier gerne in die Online-Foren und -Kommentarbereiche unseres digitalen Zeitalters legen. Hier sehe ich das Problem eher im Bereich der Medienaneignung sowie der Lehr- als auch Lernkompetenz unserer digitalen Gesellschaft.

Ein Videospiel wie „Assassin's Creed“ kann heutzutage eine historische Epoche zum interaktiven (Er-)Leben erwecken, wie wir es vor wenigen Jahrzehnten nur zu träumen wagten. Natürlich fällt dagegen die klassische Erfahrung von Geschichte in Form analoger Schul- und Sachbücher, wie sie lange Zeit Gang und Gebe war, extrem ab. Die konstruierte virtuelle Realität wird für uns wahrhaftiger und unmittelbarer erfahrbar als die vermeintlich reale Wirklichkeit. Kurzum, das Virtuelle wird zur Hyperrealität, die die Realität selber hinter sich lässt.


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Das weitläufige Paris der französischen Revolution in "Assassin's Creed Unity", erschienen Ende 2014.
Bild: Ubisoft



Eigentlich müsste an dieser Stelle die moderne Schulbildung anschließen, Videospiele als Anstoß für die Auseinandersetzung mit Geschichte nutzen, an dargestellte Inhalte anknüpfen und einen Übergang von den subjektiv erfahrbaren virtuellen Welten eines „Assassin's Creed“ zu den objektiven Fakten der Geschichtsschreibung schaffen. Stattdessen herrscht heutzutage aber immer noch eine Parallelität der Medien, ein heraufbeschworener Kampf zwischen dem was lehrt (wie das Schulbuch) und dem was unterhält (das Videospiel). Dabei sind virtuelle Räume genauso Teil unserer Realität, wie physische Räume auch. Virtuelle Räume existieren nicht neben unserer Wirklichkeit, sondern in ihr. Junge Menschen brauchen einen Zugang zum Lernen über ihre Alltagswelten und somit heutzutage eben auch über das Virtuelle. Warum nicht eine Geschichtsstunde über die Französische Revolution mit einer virtuellen Exkursion in die Bastille von „Assassin's Creed Unity“ eröffnen, um anschließend die subjektiven Eindrücke zu diskutieren und das Dargestellte mit Hilfe von Gruppen- und Textarbeit richtig einzuordnen? Dadurch würde nicht nur historisches Wissen vermittelt werden, sondern auch die heute so dringend benötigte Fähigkeit, medial inszenierte Wirklichkeit von realer Wirklichkeit zu unterscheiden.


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Der amerikanische Bürgerkrieg als Stellvertreterkrieg zwischen Assassinen und Templern: George Washington und Hauptfigur Connor in "Assassin's Creed III".
Bild Ubisoft



Medien haben schon immer unser Bild von Wirklichkeit und auch unser Bild von Geschichte mitgeprägt. Wenn wir an die Kämpfe des zweiten Weltkriegs denken, haben wir heute automatisch die ausgewaschenen Bilder und das diffuse Licht der Schlachtszenen aus „Der Soldat James Ryan“ vor Augen, der seit seinem Erscheinen die Ästhetik von fiktionalisiertem Kriegsgeschehen maßgeblich mit geprägt hat. Stevel Spielberg und sein Kameramann Janusz Kaminski manipulierten hierfür extra die Linsen und Shutter der Filmkameras, um Look und Feel alter Newsreel-Aufnahmen aus dem Krieg zu simulieren. Oliver Stones Polit-Thriller „JFK – Tatort Dalls“ vermischt so geschickt fiktionale Spielfilmszenen mit historischem Filmmaterial sowie vermeintlich historischen aber in Wahrheit inszenierten Aufnahmen des Kennedy-Attentats, dass der Film bis zum heutigen Tag der Kultivierung verschiedenster Verschwörungstheorien zur Ermordung des 35. Präsidenten der USA beiträgt. Dan Brown bediente sich für seinen Bestseller „Sakrileg“ bei dem Sachbuch „Der Heilige Gral und seine Erben“ des umstrittenen BBC-Autoren-Duos Henry Lincoln und Micheal Baigent – Und verhalf so den haltlosen Thesen des schon damals in wissenschaftlichen Kreisen längst abgeschriebenen Buches zu neuer Popularität im öffentlichen Diskurs. In der unreflektierten Aneignung fiktiver Medien liegen also durchaus Gefahren in Bezug auf die Wahrnehmung von Geschichte, aber eben auch Potentiale. So bewog der „JFK“-Film die amerikanische Regierung z.B. dazu, einen Teil der Akten über das Kennedy-Attentat zu öffnen, um wenigstens ein Stück weit die nebulösen Hintergründe des Vorfalls aufzuklären und wilden Spekulationen entgegen zu treten.


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In der Industrialisierung angekommen: Das viktorianische London im neu angekündigten "Assassin's Creed Syndicate".
Bild: Ubisoft



Ein interessanter Aspekt der „Assassin's Creed“-Spiele in dieser Hinsicht ist, dass die dargestellten Ereignisse innerhalb ihrer fiktiven Welt überhaupt gar keinen Anspruch auf Wirklichkeit erheben. Denn sie sind simulierte (und damit subjektive) Erinnerungen ihrer Protagonisten, die der Spieler mit Hilfe einer Maschine namens Animus zugänglich gemacht werden, die Erinnerungen aus vererbter DNA lesen kann. „Assassin's Creed“ macht so selber auf die Subjektivität seiner historischen Darstellungen aufmerksam und wirft indirekt die Frage auf, inwieweit es überhaupt eine objektive Wirklichkeit von Geschichte gibt und ob die Deutung dieser nicht immer auch vom Blickwinkel des Betrachters abhängt.

Wir befinden uns im Zeitalter der Transmedialität. Nicht nur lösen sich die Grenzen zwischen den Medien auf, auch der Rahmen, der seit Jahrhunderten das Fiktive vom Realen trennte und daran hinderte Teil der Realität zu werden, ist im Begriff sich aufzulösen. Das hat spannende neue Formate zur Unterhaltung und zur Aneignung von Wissen zu Folge, fordert aber eben auch ein hohes Maß an Medienkompetenz und kognitiven Fähigkeiten, die nur im reflektierten Umgang mit den neuen Medien gewonnen werden können. Im Idealfall kann uns populäre Fiktion sogar einen spannenden Anstoß dazu bieten, uns mit neuen Themenfeldern auseinander zu setzen. Die „Assassin's Creed“-Spiele bieten unzählige solcher Anknüpfungspunkte. Aber so eine Form der Selbstaneignung von Wissen muss kultiviert werden. Populär-Kultur macht uns nur dann dümmer, wenn wir von vornherein nie gelernt haben, uns selber klüger zu machen. Wir alle sollten uns und auch unser Umfeld deshalb immer wieder darin fordern, neugierig zu sein, andere Blickwinkel einzunehmen und nicht nach einfachen Lösungen zu suchen.


“As the man said, for every complex problem there’s a simple solution, and it’s wrong.”
― Umberto Eco, Foucault's Pendulum


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Begleitende Links zum Thema:
"Assassin's Creed Unity": EU-Politiker wittert "kapitalistische Verschwörung"
http://derstandard.at/2000008315883/Assassins-Creed-Unity-EU-Politiker-ist-kapitalistische-Verschwoerung

Umberto Eco ohrfeigt Dan Brown
http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article122057718/Umberto-Eco-ohrfeigt-Dan-Brown.html

Sonntag, 6. Juli 2014

“I won't scatter your sorrow to the heartless sea.”

Die Jagd nach dem weißen Wal und der Krieg gegen den Terror –Intertextualität und Allegorie in Metal Gear Solid V.

Phantom pain. Phantomschmerz. Nicht nur Big Boss a.k.a. Snake (neuster Zuname "Venom"), Protagonist und Spieler-Avatar von Metal Gear Solid V, kann ein Lied davon singen. Seinem "Militaires Sans Frontières" durch einen hinterhältigen Anschlag beraubt, der ihm selbst einen Teil seines Körpers kostete, schwört Venom Snake Rache. Rache für die gefallenen Kameraden seiner privatisierten Söldner-Armee, welche einst als Zufluchtsort all jener Kämpferseelen ohne Ideologie und Heimat dienen sollte. Rache für den Verrat und die Erniedrigung, die mit dem hinterlistigen Akt des Terrors verbunden waren. Rache für den Stumpf, der seit dem Erwachen aus dem Koma da ist, wo einst sein Arm, seine Waffenbrüder, sein "Outer Heaven" war. Und wie einst Kapitän Ahab aus Moby Dick droht auch er vom Sog seiner Vergeltung verschlungen zu werden.


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Mechanischer Arm statt Holzbein: Ahab und Snake sind Brüder im Geiste.
Bild: Konami Computer Entertainment



Metal Gear-Schöpfer Hideo Kojima liebt es mit Anspielungen und Hinweisen in seinen Trailern zu spielen. Die vielen Querverweise auf Herman Melvilles Literatur-Klassiker im bisherigen Promo-Material zu Metal Gear Solid V: The Phantom Pain kommen nicht von ungefähr. Man muss nur einmal den Klappentext der Wordsworth Classic-Ausgabe von Moby Dick in Augenschein nehmen:

"Moby Dick is the story of Captain Ahab's quest to avenge the whale that 'reaped' his leg. The quest is an obsession and the novel is a diabolical study of how a man becomes a fanatic."

Langjährige Fans der Reihe wissen bereits was Protagonist Venom Snake in The Phantom Pain bevorsteht: Der Abstieg in die Hölle, die Metamorphose zum Extremisten und zum Superschurken des Metal Gear-Universums. Auf der Suche nach seinem eigenen "weißen Wal" wird Snake zum Dämon.


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"Die Welt ruft nach Drecksarbeit. Und wir antworten. Kein größeres Gut. Keine gerechte Sache."
Bild: Konami Computer Entertainment



Hideo Kojima bedient sich also bei Melvilles Hauptmotiv und macht aus den Wahlfängern Snakes treu ergebene Soldaten, aus der Pequod die Motherbase und aus dem getriebenen Kapitän den getriebenen Söldnerkönig. Kojima wäre natürlich nicht Kojima, hätte er nicht schon von Anfang an seinen Spaß mit diesem intertextuellen Bezügen gehabt. So kündigte Kojima Productions bei den Video Game Awards 2012 unter dem Pseudonym "Moby Dick Studios" das Spiel The Phantom Pain an. Der Trailer, der zwei verwundete Männer auf der Flucht aus einem Krankenhaus zeigt, das von einer militärischen Streitmacht angegriffen wird, endet mit dem Bild eines gigantischen Wals, der plötzlich am Horizont erscheint und einen Kampfhubschrauber verschlingt. Bei einer späteren Vorspiel-Präsentation dieses Szenarios stellte sich dann einer der beiden fliehenden Männer, eine Figur mit bandagierten Gesicht, mit den Worten "Call me Ishmael" vor – eben genau jenen Worten, mit denen auch der allwissende Ich-Erzähler in Moby Dick seine Geschichte beginnt.


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"Wir setzen sie nicht auf See bei... was dann?"
Bild: Konami Computer Entertainment



Im neusten Trailer der Videospielmesse E3 sorgte beim Publikum vor allem eine Szene für Irritation: Snake schmiert sich bei einer Bestattungszeremonie die weiße Asche gefallener Kameraden ins Gesicht. Auch hier findet sich eine Verbindung zu Melville. So widmet sich das Kapitel The Whiteness of the Whale ausgiebig der verschiedenen Bedeutungen und Assoziationen der Farbe Weiß. Dazu heißt es in Hinblick auf die Toten:

„And from the pallor of the dead, we borrow the expressive hue of the shroud in which we wrap them. Nor even in our superstitions do the fail to throw the same snowy mantle round our phantoms, all ghosts rising in a milk-white fog.“

Snakes Geste lässt sich in diesem Kontext also als Ausdruck seiner Anteilnahme am Schmerz der Gefallenen verstehen. Er hüllt sein Gesicht selber in das Weiß der Toten, das Melville hier beschreibt, um den „Phantomen, die ihn quälen“ Respekt zu zollen. Das die Szene eine Seebestattung zeigt, kommt sicherlich in diesem Zusammenhang auch nicht von ungefähr.

– Das im Falle von Metal Gear Solid V mehr als willkürliches Literatur-Name-Dropping auf dem Programm stehen wird, sollte inzwischen also klar sein.


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Snake will seine toten Kameraden nicht zur letzten Ruhe betten. Sie sollen mit in den Kampf ziehen und Vergeltung üben.
Bild: Konami Computer Entertainment



Nun ist ja solche Intertextualität schön und gut, halt ein spaßiger Zeitvertreib für den engagierten Literatur-Nerd. Kojima geht aber einen entscheidenden Schritt weiter. Snakes Rachefeldzug ist nämlich auch eine Allegorie auf real-politische Geschehnisse der letzten zehn Jahre – Und hier wird es erst richtig interessant.

Im März 2014 erschien Metal Gear Solid V: Ground Zeroes, ein kurzer Prolog zum Metal Gear Solid V: The Phantom Pain, der als Stein des Anstoßes für die Handlung dienen sollte. Der Prolog handelt von Snakes Infiltration einer CIA Blacksite namens "Camp Omega" – gelegen an der südlichen Spitze Kubas und offizielles Hoheitsgebiet der USA. Ja, es ist natürlich das berüchtigte Gefängnis Guantanamo Bay, wie auch Rich Stanton in seiner Spiel-Kritik im Guardian festhält.

„'Ground Zeroes' is explicitly 'about' and based in Guantanamo Bay. And as the repeating structure and evolving narrative are at pains to point out, black sites like this and their grey legal status are a tribute to bureaucracy's unerring ability to triumph over ethics and what is "right" - just ask President Obama.“


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Ground Zeroes: Die "Nicht-Menschen" in Camp Omega.
Bild: Konami Computer Entertainment



Die Bedeutung, die dieser Ort für die weitere Geschichte von Metal Gear Solid V einnimmt, ist von höchster Relevanz. Es ist der Nullpunkt, der Katalysator für die Handlung von The Phantom Pain. Ein Ort, von dem aus ein dunklerer Pfad eingeschlagen wird, sowohl von Protagonist Snake als auch von der ganzen Spiele-Reihe an sich. Es ist der „Ground Zero“ für Snakes späteren Rachedurst. Hier beginnt der Fall einer Heldenfigur, genau wie im realen Guantanamo Bay die Grundwerte einer demokratischen Nation verraten wurden. Hier beginnt der Fanatismus, Zwischen kalten Käfigen, grausamen Verhören und den gebrochenen und misshandelten Gefangenen, deren Errettung Ziel des Spielers ist. Rich Stanton dazu:

"As the game makes clear over and over, these are legally non-people, stateless individuals that nobody wants and nobody is coming to save – except in a video game. They are non-people being gradually broken-down because that's what this place exists for; the ground-down zeroes of Ground Zeroes." If Kafka was alive today he'd be writing about Guantanamo, but instead we have Hideo Kojima and an irony; a medium predicated on interaction, a game about tactical espionage action, with an overarching theme of political inaction.“


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"Ich werde sie dazu zwingen, uns unsere Vergangenheit wiederzugeben."
Bild: Konami Computer Entertainment



Extremismus wird aus Extremismus geboren. Und hier wird Kojimas Moby Dick-Zitat auf einmal zur politisch aktuellen Metapher. Der hinterlistige Anschlag auf Snakes "Motherbase" am Ende von Ground Zeroes ist der Terror des 11. September ist der Verlust von Ahabs Bein. Der darauffolgende Feldzug, angetrieben durch den Schmerz des Verlorenen, kann nur im Fanatismus enden, im „War on Terror“, in der Jagd nach dem großen weißen Wahl. Kojima nutzt den Verweis auf einen über hundert Jahre alten literarischen Stoff durch ein interaktives Medium, um aus Wut geborenen Vergeltungsphantasien den Spiegel vorzuhalten.

Ich weiß, jetzt rollen viele Augenpaare. Kojima. Dass ist doch der Typ mit dem Fäkalhumor und der in Strapse und Leder-Tanga herum hüpfenden Scharfschützin. Der mit dem fliegenden Telepathen im SM-Outfit und den Monolog-liebenden James Bond-Bösewichten. Auch soll hier der teilweise sehr problematische und reißerische Umgang mit Themen wie sexueller Gewalt in Ground Zeroes nicht unerwähnt bleiben, wozu es im Guardian ebenfalls einen sehr guten entlarvenden Artikel von Ria Jenkins gab (siehe Link unten).


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Viel Haut, keine Stimme: Scharfschützin Quiet.
Bild: Konami Computer Entertainment



Ja, die Metal Gear-Titel sind voller merkwürdiger bis bedenklicher Klischees, abstruser Anachronismen, ausufernder Exposition und lächerlicher Plot-Twists. Anstatt das zu bestreiten, werden diese Makel aber oft mit einer ordentlichen Portion an Selbstironie vom Spiel selber umarmt. Zu Gute halten muss man den Spielen auch, dass im Gegensatz zu vielen anderen Werken ihre inhaltlichen Themen („Krieg ist die Geißel der Menschheit“) nicht im Widerspruch zum eigentlichen Spielablauf stehen: Jedes verschonte Leben wird belohnt (bzw. jedes genommene bestraft). Wer klug und bedacht vorgeht, kann die Geschichte zum größten Teil ohne tödliche Gewalt zu Ende bringen. Darüber hinaus ist die Reihe eine vor Querverweisen, Zitaten und historischen Details sprühende Fabel, oft so absurd wie eben auch visionär. Auf den ersten Blick mag einem das Ganze wie das Werk eines Wahnsinnigen vorkommen. Anderseits unterscheidet ja im Volksmund oft nur eine Sache zwischen Wahnsinn und Genie – 37 Millionen verkaufte Spiele der Schlangen-Saga sprechen für sich.


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"But in pursuit of those mysteries we dream of, or in tormented chase of that demon phantom that, some time or other, swims before all human hearts; while chasing such over this round globe, they either lead us on in barren mazes or midway leave us whelmed."
Bild: Konami Computer Entertainment










Links
"Metal Gear Solid V: Ground Zeroes review" von Rich Stanton:
http://www.theguardian.com/technology/2014/mar/20/metal-gear-solid-5-ground-zeroes

"Metal Gear Solid: Ground Zeroes fails to portray sexual violence meaningfully" von Ria Jenkins:
http://www.theguardian.com/technology/2014/apr/09/metal-gear-solid-ground-zeroes-sexual-violence

Sonntag, 22. Juni 2014

Digitale Spiele sind Kultur(en)

Vom sprengen falscher Vorurteile und bauen digitaler Brücken


Video- und Computerspiele leiden seit je an dem Dilemma, dass sich ihr Reiz und Mehrwert Außenstehenden nur schwer beschreiben lässt. Digitale Spielwelten sind etwas, das nicht einfach in Worten, Bildern oder Tönen wiedergegeben werden kann; sie müssen viel mehr in Kombination all dieser Dinge am eigenen Leib erfahren werden. In die Welt eines digitalen Spiels einzutauchen, heißt sich mit dem Fremden auseinander zu setzen, die Regeln eines unbekannten Systems zu erlernen, sich mit Funktionen und Abläufen vertraut zu machen und diese letzten Endes selber anzuwenden. In diesem Sinne sind digitale Spielwelten auch immer kulturelle Räume, in denen sich nicht selten die kulturellen Hintergründe ihrer Schöpfer wiederfinden. Digitale Spiele transportieren in dieser Hinsicht nicht nur kulturelle Identitäten, sie machen sie Spielern überall auf der Welt direkt erfahrbar.


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Der Preis des Überlebens: "The Last of Us - Left Behind"
Bild: Sony Computer Entertainment



Kulturelle Identität ist dabei kein Alleinstellungsmerkmal kleiner unabhängiger Produktionen. Ganz im Gegenteil, einige der größten Blockbuster-Hits des letzten Jahres haben sich auf komplexe Weise mit Geschichte und Identität der US-amerikanischen Gesellschaft auseinandergesetzt: Sonys The Last Of Us ist nicht nur ein Vorzeigevertreter des Survival-Horror-Genres, die post-apokalyptische Geschichte um Joel und Ellie war auch eine Parabel auf den amerikanischen Gründermythos, der Mär vom "Going West" und der unerbittlichen Realität einer Nation, die einst auf einem Fundament von Blut und Gewalt gegründet wurde. Mit den Idealen der amerikanischen Gesellschaft wurde der Spieler auch in 2K Games Bioshock Infinite konfrontiert. In der Rolle von Privatdetektivs Booker DeWitt erforschen Spieler ein alternatives Amerika in Form der fliegenden Metropole Columbia, in derer strenggläubigen Klassengesellschaft sich die zugespitzten Wertvorstellungen heutiger politischer Randgruppen der USA wiederfinden. Das Spiel ist eine Zeitreise zurück zur verzerrten Ursprungsidee der amerikanischen Nation, die die dunklen Kapitel ihrer Geschichte, genau wie Hauptfigur DeWitt, gerne verschweigt. Diese Spiele erlauben den Spielern das Erleben einer komplexen Welt, das Entschlüsseln ihrer Symbole und Zeichen, das Verstehen ihrer Bedeutungen und Zusammenhänge.


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Wahr gewordene amerikanische (Alb-)Träume: "Bioshock Infinite"
Bild: Take 2 Interactive



Dieses Phänomen beschränkt sich nicht nur auf populäre US-amerikanische Produktionen. Auch Titel aus anderen Teilen der Welt erhalten oft einen zusätzlichen Reiz, wenn sie ihre üblichen Genre-Merkmale mit Bedeutungen und Inhalten aus dem eigenen Kulturkreis anreichern. So feierte Kochmedia mit dem Vertrieb des ukrainschen Ego-Shooters Metro: Last Light einen internationalen Achtungserfolg. Basierend auf der Romanreihe des russischen Autors Dmitry Glukhovsky erschafft das ukrainische Entwicklerstudio 4A Games ein komplexes Abbild der russischen Gesellschaft, deren Überlebende nach dem nuklearen Holocaust in den Tunneln der Moskauer Metro eine neue Zivilisation errichtet haben. Es ist das Porträt einer Welt, in der Faschismus und Sozialismus wieder auf dem Vormarsch sind und deren Bewohner sich auch nach dem Weltuntergang wieder kurz davor befinden sich zu zerfleischen.


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Was nach dem Ende bleibt: "Metro - Last Light"
Bild: Koch Media



Spiele können dabei auch gezielt kulturelle Grenzen überschreiten und Identitäten verbinden. Access Games zum Kult-Spiel avanciertes Deadly Premonition ist nicht nur eine intermediale Homage an die amerikanische TV-Serie „Twin Peaks“, sondern durch seine japanische Herkunft auch eine interkulturelle Huldigung, die amerikanische mediale Einflüsse mit der Eigenwilligkeit des japanischen Spiel- und Figurendesigns verbindet. Das Ergebnis ist ein absurdes, geistreiches, verstörendes wie auch berührendes Krimi-Abenteuer um FBI-Agent York und seinen imaginären Freund Zack (oder was es anderes herum...?), der auf der Spur des Regenmantermörders im Holzfällerstädchen Greenvale dem Spieler bei einsamen Autofahrten amerikanische Filmgeschichte näher bringt. In eine ähnliche Kerbe schlägt auch Spec Ops: The Line vom deutschen Entwicklerstudio Yager, das den Spieler in der Rolle von Soldat Walker auf eine Reise in das von Sandstürmen verwehte Dubai und in das eigene Herz der Finsternis schickt. Der Third-Person-Shooter hinterfragt dabei gängige Genre-Konventionen und führt das populäre Konzept der Heldenreise ad absurdum. The Line ist sowohl Dekonstruktion eines ganzen Spiele-Genres als auch des Medienbildes des heroischen US-Soldaten, der pflichtbewusst trotz aller Widrigkeiten auszieht, um seine Mission zu erfüllen.


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Zwischen Kunst und Trash: "Deadly Premonition"
Bild: Rising Star Games



Wenn wir in digitalen Spielen bereit dazu sind, das Fremde zu erkunden und zu begreifen, vielleicht stehen wir diesem in der Realität dann eines Tages auch mit weniger Vorbehalten gegenüber. Vielleicht können digitale Spiele einmal die kulturellen Brücken schlagen, die heute in der realen Welt so dringend gebraucht werden. Und vielleicht können wir uns eines Tages durch die virtuellen Sichtweisen, die uns digitale Spiele ermöglichen, besser verstehen. Voraussetzung dafür ist eine konstante Weiterentwicklung des Mediums und dessen Unterstützung durch kulturelle als auch politische Institutionen – sowie natürlich auch durch die Spiele-Industrie selbst.


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Held oder Ungeheuer? "Spec Ops - The Line"
Bild: Take 2 Interactive



Kulturelle Kontexte und individuelle Gestaltungsweisen geben Spielen Identität, die sie zu attraktiveren als auch nachhaltigeren Unterhaltungsprodukten machen. Komplexe Inhalte und Themen, differenzierte Darstellungen von Personen und Gesellschaften, ein Fokus auf menschliche Beziehungen und Emotionen sind ein Plus, das etablierte wie auch neue Genre-Konzepte bereichert. Entwicklerstudios und Publisher sollten diese Entwicklung deshalb nicht nur tolerieren, sondern aktiv unterstützen, sofern sie wünschen auch zukünftig in einem expandierenden und vielfältigem Markt Spiele anzubieten. Inhaltlicher Stillstand, Konformität und Schablonendenken sind hingegen die ersten Sargnägel für jede noch so erfolgreiche Kreativbranche. Wenn wir Spiele wirklich als Teil unser Kultur akzeptieren wollen, dann müssen wir ihnen und ihren Machern auch das Recht einräumen sich ausdrücken zu dürfen und eigene Identitäten zu reproduzieren.

Samstag, 21. Juni 2014

Der digitale Prometheus

Nach seeehr langer Abstinenz wird mein Blog "Game Narrative" unter dem Titel "Am digitalen Lagerfeuer" wieder das Licht der Welt (bzw. das Leuchten der Flammen) erblicken. Ein URL-Wechsel ist angedacht, zunächst geht es aber erstmal hier unter der alten Adresse weiter.

Unten findet Ihr einige Beiträge aus älteren Zeiten, sehr bald folgen dann neue Gedankengänge und Analysen am Pixelfunken sprühenden Lagerfeuer-Sprite (Schlimm, wenn man sich immer wieder bei diesem Retro-Geschwärme erwischt - Oder sind wir jetzt schon bei Vintage-Gaming?)

So oder so, lasst uns etwas Erleuchtung in das undurchsichtige Dickicht und verzweigte Geäst des digitalen interaktiven Geschichtenerzählens bringen. Derweil könnt Ihr euch auch gerne mit einigen Beiträgen vergnügen, die ich während meiner Zeit als News-Autor bei maniac.de verfasst habe:


"Story vs. Spielspaß?"

"Videospiele und Kunst: unvereinbare Gegensätze?"

"Erfolgreiche Frauen in der Videospielindustrie – Realität, Utopie oder PR-Masche?"


Da ich außerdem eine Vorliebe für Intros von japanischen RPGs habe und wegen Lagerfeuer und so, beschließe ich den Beitrag mit diesem Video:




Work hard, play hard. Benny

Montag, 17. August 2009

Die Illusion des freien Willens

Offene Spielwelt vs. stringente Erzählung

Seit dem anhaltenden Siegeszug der GTA-Reihe erblicken immer mehr Spiel-Charaktere das digitale Licht einer offenen Spielwelt. Die oft auch als Sandbox-Spiele bezeichneten Titel (der Spieler als "Kind mit Spieltrieb", das seine Umwelt kreativ nach eigenem Gefallen erkunden und beeinflussen kann) fordern die Game-Autoren besonders, da es einen offensichtlichen Konflikt zwischen Storytelling (in anderen Worten Scripting und Pacing) und der vermeintlichen Freiheit des Spielers gibt.

Freie Spielwelten sind dabei allerdings nicht wirklich etwas neues. Seit Jahren erkunden vor allem westliche Rollenspieler riesige Fantasy-Welten, in denen sie unterschiedliche Aufgaben für verschiedene Gruppen oder Charaktere erledigen. Dem entgegengestellt waren hingegen schon immer die geradlinigen, japanischen Rollenspiele, die zwischen vorgegebenen Pfaden und Rundenkämpfen meistens dramaturgisch aufwendige Geschichten erzählen. Auch hier wird die oben angesprochene Ambivalenz deutlich.

Trotzdem gibt es Spiele, die versuchen Story mit Freiheit zu kombinieren und einer der besten Vertreter dieser Gattung ist meiner Meinung nach der RPG/Ego-Schooter-Mix Deus Ex. In einer nahen, von Terrorismus und Seuchen geplagten Zukunft übernimmt der Spieler die Rolle des Anti-Terror Agenten J.C. Denton. Dieser muss schon bald feststellen, dass die Welt nicht so schwarz und weiß gezeichnet ist, wie es ihm seine Vorgesetzten glauben machen wollen. Und auch das Gameplay ist alles andere als eintönig: Schon in der ersten Mission, in der wir die Freiheitsstatue aus der Hand einer Gruppe Terroristen befreien müssen, stehen uns eine Vielzahl an verschiedenen Vorgehensweisen offen, ohne dass wir allerdings das eigentliche Ziel, den Führer der Terroristen zu stellen, aus den Augen verlieren. Wir können uns frei in dem Gebiet um die Statue bewegen, verdeckt oder offensiv kämpfen, es gibt verschiedene Zugänge und optionale Nebenziele. Wir können sogar in letzter Konsequenz entscheiden, ob wir den Terroristen-Führer nur verhören oder erschießen, je nachdem was für einen Ton wir im Gespräch mit ihm anschlagen. Trotzdem dienen alle Handlungsweisen dem einen Ziel: die terroristische Bedrohung zu eliminieren.


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Einsatz auf Liberty Island: Der Beginn von Deus Ex.


Der Spieler befindet sich praktisch in einer Art Blase, in dem ihm eine Vielzahl an Möglichkeiten geboten werden, die aber trotzdem den vorgedachten Handlungsstrang zusammenhält. Haben wir unseren ersten Einsatz abgeschlossen, werden wir nach einem Besuch im UNATCO-HQ in die nächste Blase geschickt, Battery Park in New York, wo uns wieder klare Aufgaben genannt werden, unsere Möglichkeiten und das zu begehende Gebiet aber noch mal ein Stück komplexer werden. Spätestens in Hell's Kitchen, können wir den Hauptplot auch mal in den Hintergrund rücken lassen und uns anderen Subplots widmen, die uns aber letztendlich auch wieder auf den Pfad des Hauptplots leiten.

Wir sollen uns Zugang zu einem Lagerhaus verschaffen und uns ist dabei vollkommen freigestellt, ob wir dieses direkt aufsuchen oder uns erstmal Informationen oder Türcodes besorgen, wofür wir natürlich gewisse Gegenleistungen erbringen müssen. Besonders beim erstmaligen Spielen haben wir das Gefühl, wirkliche Handlungsfreiheit zu genießen, fühlen uns aber gleichzeitig durch den spannenden Plot und das geschickte Level-Design dazu veranlasst, die uns vorgegeben Ziele auch zu erfüllen. Die Entwickler lenken das Interesse des Spielers auf die wesentlichen Handlungspunkte und geben ihm dabei gleichzeitig ein Gefühl der Freiheit. Dazukommend bietet die Welt von Deus Ex viel Tiefe und Komplexität in Form von Büchern und Zeitungen, die uns über geschichtliche, gesellschaftliche und politische Entwicklungen informieren.


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Das Erklimmen dieser Container ist nur eine von vielen Möglichkeiten, um zum Ziel zu kommen.


Das macht wirklich gutes Game-Design aus: Dem Spieler das Gefühl geben, frei handeln zu können und ihm trotzdem mit Hilfe einer durchdachten, nicht zu ausladenden Levelarchitektur, eine fesselnde Geschichte zu erzählen, die wiederum durch eine glaubhafte Spielwelt, bei der man nicht das Gefühl hat, dass sie gleich hinter der nächsten Polygonwand aufhört, unterstützt wird.

Erwähnte Spiele
Deus Ex
http://de.wikipedia.org/wiki/Deus_Ex
GTA
http://de.wikipedia.org/wiki/Grand_Theft_Auto

Samstag, 30. Mai 2009

Unwissenheit ist ein Segen

Subjektives Erzählen in Spielen

Als ich vor einiger Zeit den Horror-Schocker Dead Space gespielt habe, ist mir wieder bewusst geworden, wie packend und gleichzeitig erfrischend Spiele sind, in denen die Ereignisse komplett aus der Sicht der Hauptfigur erzählt und nicht etwa durch eingeblendete Zwischensequenzen unterbrochen werden.

Mit „aus der Sicht der Hauptfigur“ meine ich jetzt nicht etwa die Kameraperspektive (Dead Space ist kein Ego-Schooter, der Spieler blickt der Hauptfigur vielmehr „über die Schulter“), sondern die Tatsache, dass wir als Spieler alle Ereignisse vom Standpunkt des Protagonisten aus wahrnehmen. Wir sehen und hören nur das, was die Spielfigur sieht und hört. Wir behalten bei Gesprächen mit Personen die Kontrolle über den Charakter. Kein virtueller Kameramann entscheidet über die Einstellungen während geskripteter Ereignisse. Wir sehen nicht, was gerade in anderen Teilen der „USG Ishimura“ passiert, höchstens über eingeblendete Hologramme die Teil der Diegese sind. Alles passiert fließend im Spielfluss, während wir uns durch die unheimlichen Räumlichkeiten des Raumschiffes bewegen. Selbst Ladezeiten werden, als Schwebebahnfahrten getarnt, ins Geschehen mit eingebunden. Man könnte, in literaturwissenschaftlichen Termini gesprochen, von einem komplett internen Point of Viewsprechen.


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Subjektive Erzählperspetive: Sogar das HUD existiert bei Dead Space innerhalb der Spielwelt (Energie-Anzeige auf dem Rücken, Munitionvorrat als Hologram vor der Waffe)


Vorzeige-Beispiel für diese Art des Storytellings ist ohne Frage die Half-Life-Reihe. Bereits im 1998 erschienen Erstling verzichtet Entwickler Valve komplett auf Zwischensequenzen, die erklären was eigentlich genau gerade passiert. Stattdessen nimmt der Spieler Story-Details und Rückschlüsse darauf, wo er sich befindet, nur im Vorbeigehen war. Nach einer kurzen Texteinblendung zu Beginn, die erklärt, dass wir einen Physiker namens Gordon Freemann verkörpern, befinden wir uns auch schon in einer Magnetbahn, die uns durch einen endlos scheinenden Industrie- und Forschungskomplex befördert. Eine Stimme aus einem Lautsprecher klärt uns schließlich darüber auf, dass wir uns in der Forschungseinrichtung „Black Mesa“ befinden und anscheinend gerade auf dem Weg zur Arbeit sind. Weiterhin durchleben wir den scheinbaren Alltag unseres Protagonisten, bis plötzlich ein Experiment schief geht und die Hölle los bricht. Um uns herum explodieren Computer, Wände stürzen ein und Fahrstühle ab. Desweiteren wird der Komplex von fremdartigen Kreaturen und später auch vom US-Militär angegriffen bzw. infiltriert. Nur langsam setzt sich dem Spieler in den folgenden Spielstunden das Bild der Situation zusammen. Durch Gespräche von verängstigen Wissenschaftlern und Wachleuten erfahren wir nach und nach, dass das erwähnte Experiment anscheinend ein Dimensions-Portal zu einer anderen Welt geöffnet hat und das Militär jetzt versucht die ganze Angelegenheit zu vertuschen. Dem vollen Ausmaß sind wir aber nie bewusst. Als Gordon Freemann sind wir hauptsächlich damit beschäftigt, in diesem Chaos zu überleben und wie in Dead Space erleben wir alle Ereignisse aktiv mit. Der Spieler wird nie für bestimmte Sequenzen zum passivem Zuschauer degradiert.


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In vielen Action-Spielen werden wir nach einem Intro-Video direkt mit klar definierten Zielen ins Geschehen geworfen. Half-Life hingegen geht komplett andere Wege.


Wir wissen nicht mehr als die Hauptfigur Gordon Freemann. Letztendlich wissen wir sogar weniger, weil sein Hintergrund und seine Aufgaben als Forscher uns zu Anfang kaum bis gar nicht bekannt sind. Wir wissen nicht, wer oder was uns hinter der nächsten Ecke erwartet oder was generell eigentlich vor sich geht. Wir müssen kombinieren und schlussfolgern durch die Dinge, die uns das Spiel zeigt und die es eben nicht zeigt. Letztendlich ist uns vollkommen ungewiss, wohin uns unsere nächsten Schritte führen, welche Mysterien uns noch erwarten. Wir erschließen zusammen mit dem Helden das Unbekannte und das ist ein motivierendes da spannendes Spielgefühl.

Wie die Faust aufs Auge passt dazu ein Zitat von Valve's CEO Gabe Newell aus dem Jahre 2004 : A single-player game is really a movie that you create in cooperation with the player, where the lead actor doesn't have a copy of the script.


Erwähnte Spiele
Dead Space
http://de.wikipedia.org/wiki/Dead_Space
Half-Life
http://de.wikipedia.org/wiki/Half-Life

Anderes
HUD
http://de.wikipedia.org/wiki/Head-Up-Display
Diegese
http://de.wikipedia.org/wiki/Diegese
Point of View
http://www.fernuni-hagen.de/EUROL/termini/welcome.html
(Klicken: zur erzählenden Lyrik > Erzähltextanalyse > Point of View)

Mittwoch, 27. Mai 2009

Manische Melodien

Als kleinen Nachtrag zum letzten Mal hier nochmal die wunderschöne Titelsequenz (+ die ersten Spielminuten) von Secret of Mana, die einen direkt in die Spielwelt "trägt". Auch der kurze Intro-Text ist ein schönes Beispiel für den Beginn einer Heldenreise.

Außerdem ist es immer wieder faszinierend, was Komponisten aus dem SNES alles rausgeholt haben. Seht (bzw. hört) selbst!

Dienstag, 26. Mai 2009

Die Initiation des Spielers

Was uns Spiele bieten / Was wir in ihnen finden

Wenn heutzutage über Videospiele und deren scheinbar starke Anziehungskraft auf (männliche) Teenager und junge Erwachsene gesprochen und debattiert wird, wird schnell einer von zwei Argumentationswegen eingeschlagen. Zwei Sichtweisen, die sich meistens klar in Anklage und Verteidigung gliedern lassen. Die Anklage betont immer wieder die angeblich schädlichen Auswirkungen des Spielens. Phänomene, wie die Vernachlässigung der schulischen Pflichten, soziale Verkümmerung und sogar die Schädigung des Nervensystem, wollen Kritiker anhand von Studien und Tests nachweisen können. Auf der anderen Seite verteidigt sich die Videospielgemeinde immer wieder damit, dass in Videospielen taktisches Vorgehen erlernt und erprobt werden könne, dass die virtuelle Realität neue soziale Räume schaffe und dass regelmäßiges Spielen sogar zu einem besseren Umgang mit Stress führe.

Eigentlich sollte jedem aufgefallen sein, dass wir bis jetzt nicht mal annähernd um die oben genannte Fragestellung kreisen. Wir sprechen von (umstrittenen) Wirkungen, aber nicht vom eigentlichen Affekt. Außerdem setzten die Diskussionen oft immer nur (gewollt oder ungewollt) ihren Schwerpunkt auf „Online-Shooter“ und „MMORPGs“, dass heißt Spiele bei denen Menschen virtuell über Netzwerke miteinander agieren und kommunizieren. Dieses sind ohne Frage ein wichtiger Teilmarkt der Videospiel-Industrie, aber scheint hierbei oft vergessen zu werden, dass bei einem Großteil aller Spiele immer noch das „Offline-Erlebnis“ im Vordergrund steht. (auch wenn selbst ernannte Industrie-Gurus seit Jahren schon das Aussterben klassischer Offline-Spielkonzepte voraussagen.)

Vielen scheint nicht klar zu sein (oder sie haben sich einfach noch nicht damit auseinandergesetzt), dass gerade diese „Offline-Spiele“, in denen der Spieler in eine komplett „künstliche Welt“ eintritt und nur mit „künstlichen Intelligenzen“ interagiert, eine ganz eigene Faszination ausüben. Der Spieler durchlebt das Schicksal einer Hauptfigur, die ihn in der Spielwelt verkörpert. Es müssen Entscheidungen getroffen, Rätsel gelöst und Hindernisse überwunden werden. Es gibt Wendungen in der Erzählung, sich verändernde Beziehungen zu anderen Figuren und aussichtslose Situationen, aus denen es zu entkommen gilt. Kurzum: Videospiele erzählen Geschichten. Wie Filme und Bücher handeln sie von außergewöhnlichen Individuen, ihren Taten und den Abgründen, die diese überwinden müssen. Zu lange wurden Videospiele nur als Reaktionstests und Zeitvertreib für Zwischendurch gesehen. Sie sind der nächste Schritt in der Evolution erzählender Medien. Und sie bieten dem Rezipienten zum ersten Mal die Möglichkeit selbst in das Geschehen einzugreifen. Wir sind nicht mehr länger passiver Zuhörer/Beobachter, wir sind aktiver Mitgestalter.

Geschichten fesseln und begeistern uns. Sie lassen uns die Lust am großen Abenteuer erleben, bieten eine Flucht aus den alltäglichen Routinen. Wir begleiten die Hauptfigur auf dem mythischen Pfad zur Erkenntnis, an dessen Ende uns die Wahrheit, das allheilende Elixier oder die Schlüsselfigur in Form des Vaters oder der/dem Geliebten erwartet. Bei Videospielen verschmelzen wir mit der Heldenfigur (wie stark, ist vom jeweiligen Spiel und subjektivem Empfinden abhängig). Sind es vielleicht gerade diese „mythischen Grundmuster", die sich seit Jahrtausenden in unserem kollektiven Gedächtnis verankert haben, die junge Menschen faszinieren und vor den Bildschirm bannen? Ersetzen sie nicht teilweise (wenn auch nur unbewusst) die Initiationsrituale älterer Kulturen? Jene Reisen von denen die Kinder als Erwachsene zurückkehrten, auf denen sie Wahrheit und den Wert des Lebens kennen lernten? Gerade in unserer rationalisierten und durchorganisierten Gesellschaft verschwimmen die Grenzen zwischen Kindheit und Erwachsensein doch immer mehr. Gleichzeitig wie der Druck auf den jungen Schultern immer schwerer, die Leistungserwartungen immer höher. Meiner Meinung verstärken gerade diese Entwicklungen bei vielen jungen Menschen den Drang zur Freiheit und zum Abenteuer, den essentiellen Wunsch der Selbstfindung, und Videospiele sind ein unkompliziertes Mittel dieses Verlangen zu befriedigen und gleichzeitig zu stimulieren. Sie bieten schnell und unkompliziert den Zugang zu einer anderen Welt, in der vieles klarer und einfacher ist, in der wir einem (vorbestimmten) Weg folgen. Sie bieten eine Welt in den wir an unseren Aufgaben wachsen und Grenzen überschreiten.

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Der Held folgt dem Ruf zum Abenteuer: Hier in Form des Schwertes, das aus dem Stein gezogen werden will.


Welcher Spieler kennt sie nicht: Momente innerhalb von Spielen, die sich fest in unseren Erinnerungen verankert haben? Wie könnten wir je vergessen, wie wir in Secret of Mana in der Rolle des Jüngling das Mana-Schwert aus dem Stein zogen, Unglück über unser Heimatdorf brachten, aus eben jenem Grund verband wurden und uns schließlich den Gefahren einer fremden Welt stellen mussten? Welcher Spieler von Final Fantasy VII erinnert sich nicht an den Moment, in dem wir als Cloud Strife nach einer halsbrecherischen Verfolgungsjagd zum ersten Mal die Mauern des verdreckten Midgars verließen und sich vor uns endlose grüne Steppen auftaten, die darauf warteten, erkundet zu werden? Wie einprägsam waren die ersten Schritte aus der Sicht Gordon Freemanns durch die markanten Straßenzüge von City 17 in Half-Life², das wir kurz zuvor in einem virtuellen Zug erreicht hatten? Diese Sequenzen sind Beispiele für einen fundamentalen Bestandteil vieler Spiele und außerdem für einen fundamentalen Bestandteil des Mythos: Die Überschreitung der Schwelle, die das Bekannte vom Unbekannten trennt. „Der erste Schritt in eine größere Welt“ (frei nach Obi-Wan Kenobi zitiert). Es ist das gleiche Gefühl, das uns übermannt, wenn wir zum ersten Mal für längere Zeit das Elternhaus oder unsere Heimatstadt verlassen, um uns zu neuen Ufern aufzumachen. In Videospielen sind es Momente der Erhabenheit. Sie markieren den Aufbruch zur Heldenreise. Und vielleicht sind es Momente wie diese, die die am Anfang dieses Textes beschriebene Anziehungskraft von virtuellen Welten und ihren Geschichten auf junge Menschen ausmachen.

Manchmal hört man ältere Leute mit einem lachenden und einem weinenden Auge sagen: „Damals waren wir jung und wir dachten, wir könnten die Welt verändern“. Als Spieler würde ich darauf antworten: „Nun, wir sind jung, und in Videospielen können wir es immer wieder.“


Erwähnte Spiele:
Secret of Mana
http://de.wikipedia.org/wiki/Seiken_Densetsu#Secret_of_Mana
Final Fantasy VII
http://de.wikipedia.org/wiki/Final_Fantasy_VII
Half-Life²
http://de.wikipedia.org/wiki/Half-Life_2

Anderes:
Initiation
http://de.wikipedia.org/wiki/Initiation
Heldenreise
http://de.wikipedia.org/wiki/Heldenreise
MMORPG
http://de.wikipedia.org/wiki/Massively_Multiplayer_Online_Role-Playing_Game

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