Digitale Spiele sind Kultur(en)

Vom sprengen falscher Vorurteile und bauen digitaler Brücken


Video- und Computerspiele leiden seit je an dem Dilemma, dass sich ihr Reiz und Mehrwert Außenstehenden nur schwer beschreiben lässt. Digitale Spielwelten sind etwas, das nicht einfach in Worten, Bildern oder Tönen wiedergegeben werden kann; sie müssen viel mehr in Kombination all dieser Dinge am eigenen Leib erfahren werden. In die Welt eines digitalen Spiels einzutauchen, heißt sich mit dem Fremden auseinander zu setzen, die Regeln eines unbekannten Systems zu erlernen, sich mit Funktionen und Abläufen vertraut zu machen und diese letzten Endes selber anzuwenden. In diesem Sinne sind digitale Spielwelten auch immer kulturelle Räume, in denen sich nicht selten die kulturellen Hintergründe ihrer Schöpfer wiederfinden. Digitale Spiele transportieren in dieser Hinsicht nicht nur kulturelle Identitäten, sie machen sie Spielern überall auf der Welt direkt erfahrbar.


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Der Preis des Überlebens: "The Last of Us - Left Behind"
Bild: Sony Computer Entertainment



Kulturelle Identität ist dabei kein Alleinstellungsmerkmal kleiner unabhängiger Produktionen. Ganz im Gegenteil, einige der größten Blockbuster-Hits des letzten Jahres haben sich auf komplexe Weise mit Geschichte und Identität der US-amerikanischen Gesellschaft auseinandergesetzt: Sonys The Last Of Us ist nicht nur ein Vorzeigevertreter des Survival-Horror-Genres, die post-apokalyptische Geschichte um Joel und Ellie war auch eine Parabel auf den amerikanischen Gründermythos, der Mär vom "Going West" und der unerbittlichen Realität einer Nation, die einst auf einem Fundament von Blut und Gewalt gegründet wurde. Mit den Idealen der amerikanischen Gesellschaft wurde der Spieler auch in 2K Games Bioshock Infinite konfrontiert. In der Rolle von Privatdetektivs Booker DeWitt erforschen Spieler ein alternatives Amerika in Form der fliegenden Metropole Columbia, in derer strenggläubigen Klassengesellschaft sich die zugespitzten Wertvorstellungen heutiger politischer Randgruppen der USA wiederfinden. Das Spiel ist eine Zeitreise zurück zur verzerrten Ursprungsidee der amerikanischen Nation, die die dunklen Kapitel ihrer Geschichte, genau wie Hauptfigur DeWitt, gerne verschweigt. Diese Spiele erlauben den Spielern das Erleben einer komplexen Welt, das Entschlüsseln ihrer Symbole und Zeichen, das Verstehen ihrer Bedeutungen und Zusammenhänge.


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Wahr gewordene amerikanische (Alb-)Träume: "Bioshock Infinite"
Bild: Take 2 Interactive



Dieses Phänomen beschränkt sich nicht nur auf populäre US-amerikanische Produktionen. Auch Titel aus anderen Teilen der Welt erhalten oft einen zusätzlichen Reiz, wenn sie ihre üblichen Genre-Merkmale mit Bedeutungen und Inhalten aus dem eigenen Kulturkreis anreichern. So feierte Kochmedia mit dem Vertrieb des ukrainschen Ego-Shooters Metro: Last Light einen internationalen Achtungserfolg. Basierend auf der Romanreihe des russischen Autors Dmitry Glukhovsky erschafft das ukrainische Entwicklerstudio 4A Games ein komplexes Abbild der russischen Gesellschaft, deren Überlebende nach dem nuklearen Holocaust in den Tunneln der Moskauer Metro eine neue Zivilisation errichtet haben. Es ist das Porträt einer Welt, in der Faschismus und Sozialismus wieder auf dem Vormarsch sind und deren Bewohner sich auch nach dem Weltuntergang wieder kurz davor befinden sich zu zerfleischen.


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Was nach dem Ende bleibt: "Metro - Last Light"
Bild: Koch Media



Spiele können dabei auch gezielt kulturelle Grenzen überschreiten und Identitäten verbinden. Access Games zum Kult-Spiel avanciertes Deadly Premonition ist nicht nur eine intermediale Homage an die amerikanische TV-Serie „Twin Peaks“, sondern durch seine japanische Herkunft auch eine interkulturelle Huldigung, die amerikanische mediale Einflüsse mit der Eigenwilligkeit des japanischen Spiel- und Figurendesigns verbindet. Das Ergebnis ist ein absurdes, geistreiches, verstörendes wie auch berührendes Krimi-Abenteuer um FBI-Agent York und seinen imaginären Freund Zack (oder was es anderes herum...?), der auf der Spur des Regenmantermörders im Holzfällerstädchen Greenvale dem Spieler bei einsamen Autofahrten amerikanische Filmgeschichte näher bringt. In eine ähnliche Kerbe schlägt auch Spec Ops: The Line vom deutschen Entwicklerstudio Yager, das den Spieler in der Rolle von Soldat Walker auf eine Reise in das von Sandstürmen verwehte Dubai und in das eigene Herz der Finsternis schickt. Der Third-Person-Shooter hinterfragt dabei gängige Genre-Konventionen und führt das populäre Konzept der Heldenreise ad absurdum. The Line ist sowohl Dekonstruktion eines ganzen Spiele-Genres als auch des Medienbildes des heroischen US-Soldaten, der pflichtbewusst trotz aller Widrigkeiten auszieht, um seine Mission zu erfüllen.


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Zwischen Kunst und Trash: "Deadly Premonition"
Bild: Rising Star Games



Wenn wir in digitalen Spielen bereit dazu sind, das Fremde zu erkunden und zu begreifen, vielleicht stehen wir diesem in der Realität dann eines Tages auch mit weniger Vorbehalten gegenüber. Vielleicht können digitale Spiele einmal die kulturellen Brücken schlagen, die heute in der realen Welt so dringend gebraucht werden. Und vielleicht können wir uns eines Tages durch die virtuellen Sichtweisen, die uns digitale Spiele ermöglichen, besser verstehen. Voraussetzung dafür ist eine konstante Weiterentwicklung des Mediums und dessen Unterstützung durch kulturelle als auch politische Institutionen – sowie natürlich auch durch die Spiele-Industrie selbst.


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Held oder Ungeheuer? "Spec Ops - The Line"
Bild: Take 2 Interactive



Kulturelle Kontexte und individuelle Gestaltungsweisen geben Spielen Identität, die sie zu attraktiveren als auch nachhaltigeren Unterhaltungsprodukten machen. Komplexe Inhalte und Themen, differenzierte Darstellungen von Personen und Gesellschaften, ein Fokus auf menschliche Beziehungen und Emotionen sind ein Plus, das etablierte wie auch neue Genre-Konzepte bereichert. Entwicklerstudios und Publisher sollten diese Entwicklung deshalb nicht nur tolerieren, sondern aktiv unterstützen, sofern sie wünschen auch zukünftig in einem expandierenden und vielfältigem Markt Spiele anzubieten. Inhaltlicher Stillstand, Konformität und Schablonendenken sind hingegen die ersten Sargnägel für jede noch so erfolgreiche Kreativbranche. Wenn wir Spiele wirklich als Teil unser Kultur akzeptieren wollen, dann müssen wir ihnen und ihren Machern auch das Recht einräumen sich ausdrücken zu dürfen und eigene Identitäten zu reproduzieren.

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